Unter dem Motto „Kümmern ist politisch“ hatten die Gleichstellungsbeauftragte der Stadt, die Frauenberatungsstelle, ver.di und DGB anlässlich des Equal Care Days am vergangenen Donnerstag zu einer Kundgebung auf dem Braunschweiger Schlossplatz aufgerufen.
Verschiedene Institutionen, Gruppen und betroffenen Menschen nahmen daran teil. Auch die Kontaktstelle für Selbsthilfe (Kibis), vertreten durch Leiterin Ines Kampen, war gemeinsam mit Vertreter*innen von Selbsthilfegruppen wie AGUS - Angehörige um Suizid, Depresso – Menschen mit Depression, Angehörige von psychisch erkrankten Menschen, Angehörige von suchterkrankten Menschen, die Rollstuhlfahrer, Pflegende Angehörige, Die Ohrwürmer (Hörbeeinträchtigte Menschen im Berufsleben), Selbsthilfegruppe Essstörung und der Rheuma-Liga mit dabei.
Es war das erste Mal, dass in Braunschweig dem Equal Care Day mit einem Aktionstag große Aufmerksamkeit geschenkt wurde.
Ursprünglich sollte der Tag, der alle vier Jahre, immer am 29. Februar, stattfindet, der Sorgearbeit mehr Aufmerksamkeit und mehr Sichtbarkeit widmen, sowie auf die ungleiche Verteilung von Sorgeverantwortung und auf die geringe Wertschätzung der Sorgearbeit hinweisen.
Doch, so Bürgermeisterin Cristina Antonelli-Ngameni, die die Grußworte der Stadt überbrachte, sagte: „Heute geht es insbesondere darum, genau hinzuschauen, denn in fast allen pädagogischen, sozialen und pflegerischen Bereichen fehlen zunehmend Fachkräfte.“
Besonders fatal sei dabei die steigende Arbeitsbelastung derjenigen, die in diesen Bereichen arbeiten. „Die Menschen, die Carearbeit leisten, stoßen an ihre Grenzen. Die Erschöpfung, die sich dadurch einstellt, führt zu ganz großen Problemen und zu einem sozialen Notstand. Menschen brauchen Unterstützung und dafür müssen wir gemeinsam einstehen. Es ist unser aller Aufgabe, die Spirale, die sich immer weiter aufspinnt aufzuhalten“, so die Bürgermeisterin. Ein Umdenken sei notwendig, denn Sorgearbeit sei die Basis der Gesellschaft“, betonte Cristina Antonelli-Ngameni.
Viele Betroffene, die Sorgearbeit leisten, waren bei der Kundgebung nicht dabei. Sie hatten keine Möglichkeit, da sie mit der tagtäglichen Carearbeit beschäftigt waren.
Sorgearbeit ist weiblich: Haushalt, Kinderbetreuung, Pflege Angehöriger: 80 Prozent dieser Aufgaben werden bis heute von Frauen abgefedert. „Das macht deutlich, dass zur gleichberechtigten Sorgearbeit noch ein weiter weiter Weg vor uns liegt“, sagte die Bürgermeisterin.
Weitere Redner*innen fanden ebenfalls deutliche Worte. Antje Pohle, Krankenschwester und Schwerbehindertenbeauftragte am Städtischen Klinikum sagte: Nach dem Feierarbend ist für viele noch lange nicht Schluss, denn danach folgt die häusliche Carearbeit.
Insa Lüsse, die als vierfache Mutter und pflegende Angehörige bestätigte das: „Wir leisten täglich rund 4,5 Stunden unbezahlte Sorgearbeit, Und damit ist jeder Tag gemeint, sieben Tage die Woche. Wenn man die gesamte unbezahltr Sorgearbeit mit einem sehr geringen Lohn bezahlen würde, würde das in Deutschland knapp vierzig Prozent des Bruttoinlandsproduktes ausmachen. Damit ist die unbezahlte Sorgearbeit der größte Wirtschaftssektor in Deutschland. Aber snsere Arbeit ist unsichtbar, auf dem Kontoauszug, unsichtbar im Rentenbescheid, unsichtbar im Lebenslauf für Bewerbungen. Sorgearbeit bedeutet in der Regel eine 24 Stunden Bereitschaft, ohne Wochenende oder Urlaub“, so Insa Lüsse.
Reiner Knoll vom Sozialverband Deutschland, Andrea Hotopp vom DGB sowie Margarete Wille von der IG Bau waren sich einig: Sorgearbeit müsse angemessen gewürdigt, aufgewertet und fair verteilt werden.
Marion Lenz die Frauenbauftragte der Stadt, Marion Lenz sagte: „Menschen bekommen keine Anerkennung, es fehlt die soziale Absicherung oder überhaupt irgendeine Form von Sichtbarkeit. Seit Jahren stecken wir in einer krisenhaften Situation. Alles geschieht still und leise. Die Gesellschaft rechnet damit, dass es funktioniert, honoriert es aber nicht. Dass ist das, was uns so wütend macht. Aber wer definiert in dieser Gesellschaft eigentlich was Arbeit ist und was keine Arbeit ist. Wer sagt uns eigentlich, was Wertschöpfung ist. Wir hören immer wieder, gerade von großen Industrie- und Arbeitgeberverbänden, dass wir uns hinten anstellen sollen. Doch, das, was wir leisten, ist die Grundlage der Gesellschaft, die Grundlage, dass unsere Gesellschaft menschlich bleibt. Wir sind keine Industrieroboter.“
Gemeinsam mit den Selbsthilfegruppen zeigte die Kibis ganz deutlich ihre Präsenz bei der Veranstaltung. Warnwesten mit dem Aufdruck „Wir zeigen Gesicht“, machte sichtbar, was Norbert Wiedemann von der Angehörigenselbsthilfegruppe psychisch erkrankter Menschen auf den Punkt brachte: „Unser Dabeisein war für uns wichtig. Wir wollten rausgehen, in der Öffentlichkeit Gesicht zeigen und deutlich machen, dass unser ehrenamtliches Engagement dazugehört und Sorgearbeit sehr facettenreich ist."
Das betonte auch Ines Kampen, Leiterin der Kibis: "Die unschätzbare Arbeit, die in den Selbsthilfegruppen geleistet wird, braucht noch mehr öffentliche Anerkennung. Das ist auch ein großes Stück an Sorgearbeit. Teilzunehmen und Teil einer noch größeren Bewegung zu sein, gibt ein gutes Gefühl und bestätigt, wie notwendig es ist, sich für andere Menschen in einer schwierigen Situation einzusetzen. Eine starke, solidarische Gesellschaft ist enorm wichtig.“