23.02.2024

Von der Herausforderung zur Hoffnung: Das Leben mit suchtkranken Eltern - die Jugend- und Drogenberatung gibt "vergessenen Kindern" Halt und Unterstützung


Aufwachsen mit suchtkranken Eltern ist eine besondere Herausforderung für Kinder. Etwa 2,6 Millionen Kinder wachsen in Deutschland in Familien mit suchtkranken Eltern auf. So auch die heute siebzehnjährige Karina (Name geändert) aus Goslar. Inmitten der Herausforderungen einer suchtbelasteten Familie hat sich die bemerkenswerte junge Frau auf ihren persönlichen, starken Weg begeben. Ihr Weg von der Kindheit im Schatten der Sucht bis hin zur Unterstützung durch die Jugend- und Drogenberatung ist eine inspirierende Geschichte der Resilienz. Die Belastungen der Vergangenheit haben sie geprägt, doch mit Entschlossenheit und Mut hat sie sich entschieden, einen anderen Pfad einzuschlagen.

Karinas Kindheit fand unter enorm erschwerten Lebensumständen statt. Ihre Eltern waren beide suchtkrank. „Für die Kinder bedeutet die Sucht eines oder beider Elternteile immer, dass sie in einer Atmosphäre von Unsicherheit und Angst aufwachsen. Auch suchtkranke Eltern lieben ihre Kinder. Sie sind jedoch meist nicht in der Lage, ihnen Zuwendung und Liebe mit der Beständigkeit und Zuverlässigkeit zu geben, wie die Kinder dies zum gesunden Aufwachsen bräuchten. Suchtbedingt neigen suchtkranke Eltern zu starken Stimmungsschwankungen und zeigen oft unberechenbares Verhalten. Dies belastet die Kinder und kann sie auf Dauer in ihrer Entwicklung stark beeinträchtigen. Kinder von Suchtkranken lieben ihre Eltern und hüten das Familiengeheimnis. Ihr eigenes Leid bleibt jedoch oft unerkannt, weil sie es durch ihr Verhalten geschickt verstehen, die Aufmerksamkeit der Umwelt von den Problemen zu Hause abzulenken“, erläutert Anna Pielken-Rieger, Leiterin der Jugend- und Drogenberatung (Drobs) in Goslar.  

Karinas Mutter und Vater kamen regelmäßig in die Jugend- und Drogenberatung in Goslar, brachten ihre Kinder mit. Karina und ihr Bruder tummelten sich im Café Spiegel. „Das war kein angemessener Ort für Kinder“, war Anna Pielken-Rieger, Leiterin der Einrichtung, klar. Dennoch wollten die Mitarbeitenden der Drobs die Kinder im Blick behalten. So entstand 2007 eine Elterngruppe, bei der die Kinder dabei sein sollten. Das Projekt „Sei kein Frosch“ war geboren. Erst als Ferienaktion auf einem Reiterhof, später als reines Angebot ausschließlich für die Kinder.

Auch Karina und ihr Bruder nahmen an den Aktionen teil. „Ich war fünf Jahre alt, als ich das erste Mal dabei sein konnte. Die Tage auf dem Reiterhof haben so viel Spaß gemacht. Zu Hause gab es ja nichts. Wir haben nur rumgesessen. Geld war nicht da und meine Eltern waren mit ihrer Sucht beschäftigt. Wir haben endlich etwas Schönes erleben können und hatten etwas zu erzählen. Und wir haben gemerkt, dass wir nicht alleine sind, dass es andere Kinder gibt, denen es ähnlich geht“, erzählt Karina. Freundschaften sind daraus entstanden. Bis heute zieren Bilder, Fotos und angemalte Hufeisen ihr Zimmer. Später, als Jugendliche gab es andere Aktionen, wie der Besuch der Jump Halle.

„Durch Sei kein Frosch ist unsere Kindheit wieder mehr Kindheit geworden. Da waren wir wieder fröhlicher. Mir war schon früh bewusst, dass ich in einer „anderen“ Familie groß geworden bin“, so die heute Siebzehnjährige. Die Rollen waren vertauscht, denn sie übernahm die Verantwortung zu Hause, räumte auf, putzte, ging einkaufen, wusch die Wäsche und kümmerte sich um Rechnungen, beglich sogar Schulden. Ihre Eltern waren mittlerweile getrennt. Sie lebte bei ihrer Mutter, die, so Karina, „alles schludern ließ“.  Ihr Bruder zog 2019 aus. Sie blieb. „Ich wollte solange wie möglich bei Mama bleiben, habe alle möglichen Aufgaben übernommen, damit nichts auffliegt“, sagt sie. Doch 2021 zog auch sie aus. Es ging nicht mehr. Damals war sie 15 Jahre alt. Seitdem wohnt Karina bei ihrer Oma. Noch im selben Jahr verstarb ihre Mutter. Der Kontakt zu ihrem Vater besteht noch.

Mittlerweile besucht sie die Fachoberschule für Sozialwesen und hatte bis Ende Januar ein Praktikum bei der Drobs absolviert. „Ich kenne die Leute, habe eine besondere Sichtweise und Verständnis für die Menschen“, sagt Karina. Generell sei ihr ein respektvoller Umgang wichtig. Denn sie weiß: Sucht ist eine Krankheit.

Durch die Sucht ihrer Eltern ist sie früh erwachsen geworden. Das ist schnell spürbar im Gespräch. Karina ist reflektiert: „Mir war bewusst, dass Sucht eine Krankheit ist. Meine Eltern haben vor uns Kindern Drogen konsumiert. Unsere Eltern haben uns das sogar erklärt. Aber das hat ja nichts geholfen.“

Auf die Frage, was sie sich von der Zukunft erhofft, antwortet die bemerkenswerte junge Frau: „Ich will es besser machen. Schaue nach vorne und vielleicht verarbeite ich dadurch auch. Einen richtigen Plan habe ich nicht. Nach der Schule will ich am liebsten ein Freiwilliges Soziales Jahr beim Rettungsdienst absolvieren. Ich will mein Leben im Griff haben, denn ich weiß genau, wie es enden kann.“

Diese bewegende Geschichte zeigt, dass mit der richtigen Hilfe und der eigenen Willensstärke selbst schwierigste Umstände überwunden werden können. Die junge Frau ist ein tolles Beispiel und kann anderen in ähnlichen Situationen Hoffnung geben.

Das Projekt „Sei kein Frosch“ ist ein Leuchtturmprojekt, das mittlerweile pauschal über den Landkreis Goslar gefördert wird. Dies ist niedersachsenweit einmalig und so konnte es gelingen, Kinder aus suchtbelasteten Familien ein regelmäßiges Angebot anzubieten, das auch genutzt wird. Im Jahr 2023 konnten insgesamt mit diesem Angebot 18 Kinder im Alter von 4- 12 Jahren erreicht werden.

Der Bedarf ist jedoch weitaus höher und es gelang letztes Jahr, erstmals Kinder aus Seesen und Umgebung miteinzubeziehen. Dort eine feste Gruppe, wie in Goslar zu etablieren, wäre ein großer Wunsch von der Leiterin der Drobs Goslar, Anna Pielken-Rieger.